Anlässlich des internationalen Tages des weißen Stockes stand folgender Artikel über unser Mitglied Margit Becker am 14.Oktober im Mittelhessenboten und am 17.Oktober in der Gelnhäuser Neuen Zeitung :
„Für
mich ist die Welt noch immer voller Farben“
Margit Becker ist seit ihrem 23. Lebensjahr blind – eine Geschichte über
ein ziemlich buntes Leben
Von Nicole Schmidt
Frohnatur: Auf dem Weg zum Einkaufen trifft Margit Becker
zufällig eine frühere Kollegin - die Freude ist offensichtlich
Hanau. Sie mag Action: Wildwasserrafting, Paragliding, Bergwandern. Dabei wäre es manch anderem in ihrer Situation vielleicht Aufregung genug, eine Straße zu überqueren. Margit Becker ist blind. Und ein Leben ohne Augenlicht, das ist für die allermeisten Sehenden der Alptraum schlechthin. Für Becker ist es einfach ihr Leben. Mit dem „Tag des weißen Stocks“ soll jedes Jahr am 15. Oktober ein Stück weit auf die Belange blinder Menschen aufmerksam gemacht werden. Unsere Redakteurin Nicole Schmidt hat dieses Datum zum Anlass genommen, den Alltag eines Menschen zu begleiten, der sich nicht auf das verlassen kann, was er sieht, sondern sich allein mit Hören, Riechen und Fühlen zurechtfinden muss – und seine Geschichte aufzuschreiben. Es ist jedoch, und das sei an dieser Stelle betont, nicht zuallererst die Geschichte einer Blinden, sondern die von Margit Becker. Sie ist Ehefrau, Naturliebhaberin und Sportfan. Sie ist optimistisch, ungeduldig, neugierig und noch vieles mehr. Und sie ist blind.
Als Margit
Becker sich selbst das letzte Mal sieht, ist sie noch eine andere. Eine zarte
junge Frau von 23 Jahren, mit dunklen Haaren und hellen Zukunftsplänen.
Mit Träumen. Doch während sie noch träumt, wächst in ihrem
Kopf ein Tumor heran, ein Stück Gewebe, das alles verändert. Er soll
sich als gutartig herausstellen, doch er drückt auf das Chiasma opticum,
die Stelle, wo sich die Sehnerven kreuzen. Margit Becker wird mit der Prognose
konfrontiert, dass ihr Augenlicht nicht zu retten sein wird. „Ich habe
geheult wie ein Schlosshund“, erinnert sich Becker, „hab’
die Augen zugemacht und versucht, bei mir daheim die Treppe herunterzulaufen.“
Es ist wie ein Alptraum, aber Margit Becker wacht nicht auf. Der Sehnerv muss
durchtrennt werden, um den Tumor zu entfernen, und als sie nach der Operation
die Augen aufmacht, sind da nur noch verschwommene Umrisse, wo früher Bilder
waren. Das ist zumindest nicht nichts. „Ich war auch erleichtert, dass
ich keine Ausfälle in der Sprache hatte und nicht halbseitig gelähmt
war“, erinnert sich Becker. Irgendwie muss es trotzdem gehen, denkt sie.
Doch das Leben fühlt sich auf einmal an, als hätte jemand eine Reset-Taste
gedrückt. Das eigene Scheitern an Selbstverständlichkeiten ist eine
bittere Lektion. „Eine Bluse bügeln, Fenster putzen - ich habe es
versucht, aber es ging nicht“, erinnert sie sich. „Aber irgendwann
denkt man um und lernt, seinen Fokus darauf zu richten, was man noch kann.“
Heute ist Margit Becker 59, und da ist vieles, was sie kann, auch ohne zu sehen.
Wenn man sie da stehen sieht, vor dem Fahrstuhl der physiotherapeutischen Praxis,
in der sie arbeitet, strahlt sie eine ganz unaufgeregte Selbstverständlichkeit
aus. Sie trägt einen leuchtend gelben Poncho (“Den hab’ ich
gestern erst gekauft.“) und auffällige Ohrringe, sie lacht oft und
gestikuliert viel, wenn sie spricht. Die schmale Statur ist ihr geblieben, doch
ihre Haare haben heute einen warmen Herbstton. Becker weiß nicht, ob ihr
diese Haarfarbe steht oder wie ihr Gesicht mit ein paar Fältchen mehr aussieht.
Ihr Bild von sich selbst ist mehr als 30 Jahre alt und das ihrer Welt seit vielen
Jahren nur noch Grau. Der Sehrest, der in den ersten Monaten nach der OP noch
vorhanden war, verschwand nach und nach, bis nur noch das Grau zurückblieb.
Sich mit der Blindheit zu arrangieren, das war ein langer Prozess. Das Leben
ohne Sehen ist ein anderes, und Margit Becker hat es erst lernen müssen.
In einer
sogenannten Grundrehabilitation für Blinde und Sehbehinderte, in der gewissermaßen
die Grundlagen für ein weitestgehend unabhängiges Leben vermittelt
werden, ging es zunächst um das Erlernen der Blindenschrift, aber auch
um die Schulung von Orientierung und Mobilität. „Ich habe gewissermaßen
nochmal von vorn angefangen“, sagt Becker. Auch beruflich musste sich
die gelernte Erzieherin völlig umorientieren. Seit 30 Jahren arbeitet sie
mittlerweile als Masseurin, auch wenn das nicht unbedingt ein Traumberuf für
sie war. „Naja, ich habe mir anfangs schon überlegt, ob ich das möchte,
jetzt für die nächsten 40 Jahre nackige Menschen anzufassen“,
erinnert sich Becker lachend an die Entscheidung, wie es für sie beruflich
weitergehen sollte. „Aber ich war schon immer ein sehr sozialer Mensch
und der Kontakt mit anderen ist mir wichtig, als Klavierstimmerin oder Telefonistin
wäre ich vermutlich verkümmert“, resümiert sie im Hinblick
auf die Alternativen, die sich ihr damals boten.
Im Alltag draußen ist heute der Blindenstock ihr ständiger Begleiter,
ohne ihn ginge nichts. Auf dem Weg zum Einkaufen beim Gemüsehändler
um die Ecke pendelt Becker mit dem Stock vor sich über den Boden, spürt,
wo der Bordstein aufhört, und ob da vielleicht eine Laterne steht. Sie
hört, aus welcher Richtung die Autos kommen, wann der Motor steht und sie
die Straße überqueren kann. Verliert sie die Orientierung, braucht
sie bestimmte Trigger, um sie wiederzufinden. Der Geruch der Bäckerei oder
der Luftzug vor einer Einfahrt sind für sie gute Anhaltspunkte, um ihren
Standpunkt zu lokalisieren. „Oder ich frage einfach jemanden, in welcher
Straße ich gerade bin“, erzählt sie. Insgesamt seien die Menschen
ziemlich hilfsbereit und rücksichtsvoll, sagt Becker, auch dumme Kommentare
habe sie nie gehört. „Nur einmal hat mir ein Autofahrer fast die
Stockspitze abgefahren, als er um die Kurve gerast ist - da habe ich mich wahnsinnig
erschrocken.“
Blind sein, das zwingt einen auch, Vertrauen zu haben: In sich selbst und in
andere. Margit Becker vertraut sich. „Und ich bin kein sonderlich ängstlicher
Mensch“, erzählt sie auf dem Weg zum Gemüsehändler. Den
ist sie schon oft gegangen, zuerst gemeinsam mit ihrem Mann, der ihr Einzelheiten
genau beschrieben hat, damit sie sich diese einprägen konnte. Dennoch erfordert
dieser Weg viel Konzentration, und auch der Einkauf ist anstrengender, denn
was Sehende ganz ohne nachzudenken tun, stellt für einen blinden Menschen
oft große Herausforderungen dar. Was andere anhand der Optik auswählen,
muss Becker haptisch identifizieren. Das dauert zwar länger, klappt jedoch
erstaunlich gut. Nur bei Quitten muss sie passen: „Da weiß ich überhaupt
nicht, was das ist“, gibt sie lachend zu, und bezahlt an der Kasse ihre
Bananen. Auf dem Weg zum Bus ruft eine Frau ihren Namen, Margit Becker erkennt
die Stimme sofort. Es ist eine frühere Kollegin, die Freude über die
Begegnung auf beiden Seiten groß. Sie klönen ein bisschen, verabreden
sich auf einen Kaffee. „Ich war immer gern unter Menschen, und man bleibt
ja derselbe Mensch, auch wenn man blind ist“, sagt Becker.
Sehen und wahrnehmen, das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Die meisten
Menschen in ihrem Freundeskreis hat Margit Becker nie gesehen, auf eine andere
Art aber vielleicht in einer Intensität wahrgenommen, die einem Sehenden
nicht möglich wäre. Sie hat ein sehr feines Gespür für Menschen
entwickelt, denen sie begegnet. Am Klang der Stimme schätzt sie das Alter
ihres Gegenübers, zieht aus dem Händedruck Schlüsse über
dessen Statur und lässt so vor ihrem inneren Auge ein Bild entstehen. „Und
später frage ich dann meinen Mann, wie die Person tatsächlich aussah.“
Es ist ein bisschen so, als ob ihre Umwelt einen Film sieht, während Margit
Becker ein Buch liest: Die anderen sehen fertige Bilder, sie selbst lässt
diese in ihrem Kopf entstehen. Dort ist es übrigens auch insgesamt ziemlich
bunt: „Ich habe nie das Gefühl, dass ich mich die ganze Zeit allein
in einem grauen Nebel befinde, ich stelle mir meine Umgebung detailliert vor“,
beschreibt Becker.
Das gilt auch für ihr Zuhause, das aussieht, wie sie selbst: herbstlich,
freundlich. Helle Holzmöbel, moderne Gardinen mit asymmetrischem Verlauf,
geschmackvolle Deko, viel Platz. In den Regalen offenbaren dutzende Reiseführer
ihre Leidenschaft für ferne Länder. Margit Becker bewegt sich hier
so sicher, dass man beinahe vergisst, dass sie blind ist. Auf dem großen
Esstisch im Wohnzimmer stehen eine Kanne Kaffee und Kekse. Ihr Mann Joachim
ist schon daheim, hat den Tisch gedeckt. „Ich habe die gelben Tassen genommen“,
ruft er aus der Küche. Was seine Frau nicht sehen kann, füllt er durch
seine Worte mit Bildern. Auch auf den unzähligen Reisen, die beide zusammen
gemacht haben, funktioniert das genau so. „Stell dir vor, da ist ein leuchtend
blauer Himmel, so weit du siehst, überall Rhododendronbäume mit pinkfarbenen
und rosa Blüten, und vor dir sind die schneebedeckten Gipfel der Achttausender“
- so schilderte Becker seiner Frau seine Eindrücke auf einem 3.000-Meter-Gipfel
in Nepal. Mit zwei an seinem Rucksack befestigten Griffen gibt er seiner Frau
Halt, wenn es mal wieder in die Berge geht. Körperlich fit ist diese dank
regelmäßiger Trainingseinheiten auf dem Crosstrainer ohnehin, bevor
beide auf dem Inka-Trail in den Anden unterwegs waren, gab es jedoch ein zusätzliches
Fitnessprogramm à la Margit Becker: Treppensteigen nonstop in den vierten
Stock, immer rauf und wieder runter. „Wir sind da schon ein bisschen verrückt“,
geben beide zu. Ein- oder zweimal im Jahr zieht es die Beckers in die Ferne,
Myanmar, Thailand, Indien, Peru, Namibia - nur Strandurlaub wäre beiden
zu langweilig. „Es muss ein Abenteuer sein“, sagt Margit Becker
lächelnd und gießt Kaffee ein. Sie hört, wenn die Tasse voll
ist.
Kennengelernt haben sich die Beckers während der beruflichen Umschulung, denn auch Joachim Becker ist schwer sehbehindert, seine Sehkraft beschränkt sich auf etwa zehn Prozent. „Das ist wie ein Foto in geringer Auflösung, das man ganz groß zieht, völlig verpixelt“, beschreibt er. Die Frage nach der Liebe auf den ersten Blick ist eine, die sich nicht stellt, wenn man blind ist, vermutlich aber hätte es bei den beiden auch unter anderen Umständen nicht sofort Klick gemacht. „Wir waren einfach ziemlich unterschiedlich, er war der chaotische Typ und ich eher aufgeräumt“, erinnert sich Margit Becker. „Und dann war er auch noch jünger als ich.“ Doch nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft, und „irgendwann hat’s dann geschnackelt“. Irgendwann, das ist über 30 Jahre her, fast genauso lange sind sie inzwischen verheiratet. All diese Jahre spürt man in der innigen Vertrautheit zwischen den beiden, doch auch den liebevollen Umgang miteinander haben sie sich bewahrt. „Seine Cargohosen finde ich aber immer noch nicht wirklich toll“, wirft Margit Becker lachend ein.
Ihr ausgeprägter
Sinn für Ästhetik ist ihr in all den Jahren mit dem Grau vor ihren
Augen nicht abhanden gekommen, und deshalb ist ihr nach wie vor auch Kleidung
sehr wichtig. Joachim Becker hat deshalb die verdienstvolle Aufgabe, seiner
Frau beim Einkaufsbummel zu assistieren. „Ich mag Beige, Braun, Orange
und Apricot, Schwarz, Grau und Blau zieh’ ich gar nicht an“, sagt
Margit Becker. Ihr Mann bringt ihr dann eine Vorauswahl in die Umkleidekabine,
eine Hose in beige, den Pulli zwei Nuancen heller, die Farbharmonie immer im
Blick. „Nach 30 Jahren kenne ich ihren Stil“, grinst er.
Eigene Kinder waren für beide nach intensiven Gesprächen irgendwann
kein Thema mehr. „Das ist natürlich eine ganz persönliche Entscheidung,
aber mich hat der Gedanke, mit einem Zweijährigen an der einen Hand und
einem Stock in der anderen durch die Stadt zu laufen, einfach überfordert“,
sagt Margit Becker. Und dass sie anfangs noch gar nicht wusste, wie sie mit
sich selbst klarkommen würde. Hinzu kommt, dass die Sehschwäche ihres
Mannes vererbbar ist - ein zu großes Risiko, befanden beide.
Das Paar hat sich sein Leben anders eingerichtet, als es das vielleicht ohne
die Sehbehinderung getan hätte, aber es ist gut so, wie es ist, sagen beide.
Sie haben einen großen Freundeskreis und einen vielbeschäftigten
Anrufbeantworter. „Die Beckers sind selten daheim“, lacht Margit
Becker. Zusammen sind sie - einem Tandem sei Dank - viel mit dem Fahrrad unterwegs,
im Sommer wird gepaddelt, und daheim bekocht Joachim Becker häufig Gäste
- gern auch mehrgängig. Viele ihrer Freunde sind nicht sehbehindert und
der Umgang mittlerweile selbstverständlich. Den Reaktionen anderer auf
ihre Blindheit begegnet die 59-Jährige mit dem ihr eigenen Humor. „Als
wir mal beim Paragliden waren, war mein Tandempartner völlig überrascht:
‚Sie sind ja blind‘, hat er gesagt. Ich habe geantwortet: ‚Ja,
aber ich bin ja auch nicht der Pilot.‘“
Margit Becker ist kein Mensch, der mit seinem Schicksal hadert. „Natürlich
wäre mein Leben völlig anders verlaufen, wenn all das nicht passiert
wäre. Und natürlich könnte ich jetzt seit 30 Jahren jammern,
dass ich blind bin. Aber ändern würde das nichts.“ Nur manchmal
ist der Wunsch, sehen zu können, so übermächtig, dass es beinahe
wehtut. „Als wir in Afrika auf Safari waren und mein Mann mir von einer
riesigen Elefantenherde mit kleinen Kälbern vor uns erzählt hat, da
habe ich wirklich mit den Tränen gekämpft“, gibt Becker zu.
„Und ich würde unheimlich gern wissen, wie meine Mutter heute aussieht.“
Trotzdem ist das Glas bei ihr eher halbvoll als halbleer. „Jeder hat seine
ganz persönlichen Probleme, seien sie nun finanzieller, gesundheitlicher
oder emotionaler Natur - und ich bin heute nicht unglücklicher oder unzufriedener,
als ich es als Sehende war“, sagt sie mit fester Stimme. Und schickt mit
einem Lächeln hinterher: „Davon abgesehen: Um Schwarz zu sehen, müsste
ich ja erstmal sehen können.“
Alltagskünstlerin:
Was andere mit den Augen sehen, muss Margit Becker erfühlen.
Abenteurerin: Mit Ehemann Joachim geht es regelmäßig
auf Wandertouren in die Berge - Haltegriffe amRucksack machen es möglich
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