Tastbare Uhren und Trost
Bei der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ finden Betroffene von potenziell zur Erblindung führenden Augenerkrankungen seit zehn Jahren Unterstützung

Silvia am Schreibtisch mit Tastatur und Braillezeile Silvia mit iPhone Silvias Hände auf der Tastatur mit Bralle zeile davori

 

Hanau. Manchmal sind es bloß Kleinigkeiten. Ein winziger Silikonpunkt zum Beispiel, der an einer bestimmten Stufe auf dem Heizungsthermostat klebt. Oder eine bunte Serviette, die ein transparentes Glas auf dem Tisch erkennbar macht. Simple Dinge, die als Orientierungshilfe für Menschen dienen, die die Welt anders wahrnehmen als die sehende Mehrheitsgesellschaft. Über diese und weitere Hilfsmittel und darüber, wie der Alltag überhaupt bewältigt werden kann, wenn man nichts mehr oder kaum noch etwas sieht, informiert „Blickpunkt Auge“, ein Beratungsangebot des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), das es deutschlandweit gibt. In Hanau finden Betroffene und deren Angehörige im Büro im Haus am Steinheimer Tor seit nunmehr zehn Jahren Rat und Unterstützung. Bevor es aber um konkrete Alltagshilfe geht, brauchen viele der Menschen, die hierher kommen, zunächst mal ein offenes Ohr – und manchmal auch eine Schulter zum Ausweinen.

Wir hören, riechen, schmecken und fühlen, doch den weitaus größten Teil unserer Umweltinformationen nehmen wir mit den Augen wahr. Dass wir sehen können, ist einer jener komplexen Abläufe unseres Körpers, die wir als völlig selbstverständlich begreifen, so lange sie funktionieren. In Deutschland leiden laut einer Gesundheitsstudie der Uni Mainz rund zehn Millionen Menschen an einer Augenerkrankung, die potenziell zum Verlust der Sehfähigkeit führt. Da hiervon in der Mehrzahl ältere Menschen betroffen sind, wird der demografische Wandel diese Zahl mutmaßlich künftig weiter steigen lassen. Zu den häufigsten Erkrankungen in diesem Bereich zählen die Altersabhängige Makuladegeneration (AMD), bei der in der Makula, dem Punkt des schärfsten Sehens, Sehzellen zugrunde gehen, Grauer oder Grüner Star sowie diabetisch bedingte Augenveränderungen. Die Diagnose eines drohenden Sehverlusts ist immer ein Schock. Und danach ist nichts mehr, wie es war. Das weiß auch Silvia Schäfer nur zu gut – als Betroffene und langjährige Leiterin der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“. Nicht selten breche da in der Augenarztpraxis eine Welt zusammen, sagt Schäfer. Immer häufiger hätten die Mediziner aber auch den Flyer der Beratungsstelle parat – und Betroffene in einer Ausnahmesituation einen Ansprechpartner. 73 persönliche Beratungen gab es im vergangenen Jahr bei „Blickpunkt Auge“ in Hanau, 250 weitere Menschen berieten Schäfer und ihr Kollege in der Beratungsstelle telefonisch. Fragen gibt es unzählige; welche am drängendsten sind, ist individuell sehr verschieden.

„Die meisten Betroffenen fallen in ein tiefes Loch“

Ich muss dann schauen, an welchem Punkt sich der Mensch gerade befindet, wo ich ihn auffangen kann“, sagt die 62-Jährige. Manche seien wütend, andere vor allem verzweifelt, die meisten fielen erst einmal in ein tiefes Loch. Silvia Schäfer versucht zu vermitteln, dass das Leben nicht aufhört, wenn die Sehkraft ganz oder in weiten Teilen verschwindet, dass es viele Möglichkeiten gibt, auch als sehbehinderter Mensch aktiv am Leben teilzunehmen. Ob es um die unterschiedlichen Erkrankungen als solche geht, um rechtliche und finanzielle Ansprüche, Hilfsmittel wie Bildschirmlesegeräte und sprechende Küchenwaagen oder Tipps für den Alltag – Schäfer kann dabei auf ihr Fachwissen als zertifizierte Beraterin zurückgreifen und auch auf eigene Erfahrungen als selbst fast vollständig erblindeter Mensch. Für viele Betroffene sind Blindenstöcke oder tastbare Uhren bis dahin die sprichwörtlichen böhmischen Dörfer – als Sehender befasst man sich eher selten damit, mit welchen Hilfsmitteln blinde Menschen ihren Alltag bewältigen. Gerade deshalb wähnen sich Betroffene oft schier unlösbar scheinenden Herausforderungen gegenüber, weil schon ganz alltägliche Kleinigkeiten plötzlich zum Problem werden. Ein Brot schmieren oder ein Telefon bedienen zum Beispiel. Sich in der eigenen Wohnung zurechtzufinden scheint unmöglich, ganz zu schweigen von der Vorstellung, jemals wieder allein beim Bäcker Brötchen zu holen.
Was über tröstende Worte und fundierte Beratung hinaus helfe, sei das Erleben von Menschen, die trotz Sehbehinderung ihr Leben meisterten, weiß Silvia Schäfer. In der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ gibt es viele nützliche Dinge, die dabei unterstützen. Schäfer ist im Umgang mit alledem geübt, findet sich dank Sprachausgabe trotz Touchscreen scheinbar mühelos auf ihrem iPhone zurecht, schreibt E-Mails am PC und ist dank eines Organizers mit Sprachausgabe und Brailletastatur perfekt organisiert.
Klar wird dennoch: Als blinder oder sehbehinderter Mensch am Leben teilzuhaben ist erheblich aufwendiger, anstrengender. Und erfordert stets volle Konzentration. „Es ist mühselig, ja“, sagt sie, „aber es ist möglich.“
Wer Silvia Schäfer trifft, erlebt eine offene, zuversichtliche und lebensbejahende Frau, die mit sich im Reinen scheint. Das habe, sagt sie selbst, auch damit zu tun, dass der Sehverlust bei ihr nicht plötzlich kam, sondern ein langsam fortschreitender Prozess war, der schon im Kindesalter begann. „Ich bin da sozusagen hineingewachsen.“
Schon als Grundschülerin kann sie in der Schule bald nicht mehr erkennen, was an der Tafel steht. Das Problem wird pragmatisch „gelöst“, indem sie immer eine Bankreihe weiter nach vorne gesetzt wird. „Am Ende des Schuljahrs saß ich in der ersten Reihe, und es ging trotzdem nicht“, erinnert sich Schäfer.
Mit zehn Jahren stellt eine Ärztin eine erste Diagnose: juvenile Makuladegeneration. „Das Kind wird nicht blind“, ist die Medizinerin überzeugt. Eine Sehkraft von etwa zehn Prozent werde bleiben. Sie irrt sich. Doch für Schäfers Eltern ist es zunächst eine große Erleichterung, dass ihre Tochter weiter in ihre „normale“ Schule gehen kann und nicht in eine Blindenschule muss. Im Nachhinein eine Fehlentscheidung, reflektiert Schäfer heute, was ihr damals noch nicht bewusst ist. „Es war einfach eine unglaubliche Anstrengung, ich war durch meine geringe Sehkraft extrem benachteiligt.“
Bis zur mittleren Reife quält sie sich irgendwie durch, verlässt dann die Schule. Im Deutschland der 70er-Jahre sind die beruflichen Perspektiven für blinde oder sehbehinderte Menschen extrem eingeschränkt. „Ich hatte genau zwei Optionen: Telefonistin oder medizinische Masseurin.“ Sie entscheidet sich für Letzteres, erlebt in ihrer Ausbildung erstmals, wie Lernen auch sein kann: Es gibt Lernmaterial in großer Schrift und als Kassetten zum Hören, die Lehrer nehmen Rücksicht.

Abschied von der visuellen Welt

Mit 20 realisiert Schäfer, dass mit ihrer Diagnose etwas nicht stimmen kann, und schon bald bestätigt sich, was sie nach umfangreicher Selbstrecherche bereits ahnt: Sie leidet an einer sogenannten Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (ZSD), einer genetisch bedingten Erkrankung, die die gesamte Netzhaut betrifft. Sie erlebt, wie ihr ohnehin geringes Sehvermögen über die Jahre mehr und mehr schwindet, wie ihr ihre visuelle Welt Stück für Stück entgleitet.
Ein Verlust von Selbstbestimmtheit, der auch mit einer gewissen Scham verbunden ist. „Oft habe ich Menschen auf der Straße nicht erkannt und deshalb nicht gegrüßt, wurde für eingebildet gehalten“, erinnert sich Schäfer, die damals noch in Bad Soden-Salmünster lebt. In der vertrauten Umgebung der Kleinstadt wehrt sie sich lange dagegen, einen Blindenstock zu nutzen. „Ich war einfach noch nicht so weit, mich zu outen“, sagt sie. Als sie sich 2005 doch dafür entscheidet und ein sogenanntes Mobilitätstraining absolviert, ist sie überrascht, wie sehr dieses Hilfsmittel ihren Alltag erleichtert.
Seit 2010 lebt Silvia Schäfer nun in Hanau, und in der Großstadt mit einer Sehkraft von etwa einem Prozent ist der Langstock ein unverzichtbares Utensil. Mittlerweile findet sie sich gut zurecht, lobt die Hilfsbereitschaft der Hanauer und hat ihren Umzug nie bereut. Dabei war es weit mehr als nur das: 2010 entschied sich Schäfer, die vorher schon fünf Jahre lang zum Leitungsteam der BSBH-Bezirksgruppe Hanau gehörte, ihren bisherigen Job zu kündigen und das Hanauer Büro zu übernehmen. Neue Wohnung, neue Stadt, neuer Job: „Das war schon eine ganze Menge für jemanden, der Routinen braucht“, gibt sie zu. Und erinnert sich mit Grausen an die Zeit des Hanauer Stadtumbaus: „Gefühlt jeden Tag irgendwo anders eine Baustelle – ein Alptraum für sehbehinderte Menschen“.
Weitaus schlimmer als das aber empfindet Silvia Schäfer die Einschränkungen im sozialen Bereich. „Dass ich nie Blickkontakt aufbauen, nie die Mimik meines Gegenübers wahrnehmen kann, ist für mich am schlimmsten.“ Das merkt die 62-Jährige auch im privaten Umfeld. Während ihre beiden Söhne ganz selbstverständlich mit den Einschränkungen der Mutter aufwuchsen, bleibt die Sehbehinderung für ihre mittlerweile drei Enkel durch die räumliche Entfernung etwas Fremdes. Dass Silvia Schäfer nicht sehen kann, wenn sie ihr das Lieblingsspielzeug hinhalten oder sie anlächeln, ihnen keine Bücher vorlesen kann, schmerzt sie. „Ich kann nicht die Oma sein, die ich gerne wäre.“
Was Silvia Schäfer heute noch sehen kann, ist nicht mehr als hell und dunkel, ein kleiner Fetzen hier und da, „ein minibisschen“, wie sie selbst sagt, aber auch das helfe ihr bei der Orientierung. Deshalb treibt sie die Sorge um, dass auch dieser Rest irgendwann verschwindet. „Ich weiß nicht, wie schlecht es noch wird“, sagt Silvia Schäfer. Und wird dennoch weiter versuchen, das Positive zu sehen.

Die Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ ist im „Haus am Steinheimer Tor“, Steinheimer Straße 1, in Hanau zu finden. Eine Zweigstelle gibt es in Nidderau im Familienzentrum, Geringer Ring 5. Nach Abschluss einer umfangreichen Ausbildung der derzeit drei Berater ist die Beratungsstelle seit Februar 2013 nach den Richtlinien der Organisation „Blickpunkt Auge – Rat und Hilfe bei Sehverlust“ des deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes qualifiziert.
Silvia Schäfer ist unter Telefon 06181/956663 oder per E-Mail an s.schaefer@blickpunkt-auge.de zu erreichen. Weitere Infos zum Thema finden sich auch im Internet unter www.tibsev.de.


Text und Bilder: GNZ und Hanauer Bote mit freundlicher Genehmigung von Nicole Schmidt, Pressehaus Naumann

 

 

 

zur Übersicht über Presseartikel