Tastbare Uhren und Trost
Bei der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ finden Betroffene von
potenziell zur Erblindung führenden Augenerkrankungen seit zehn Jahren
Unterstützung
Hanau. Manchmal sind es bloß Kleinigkeiten. Ein winziger Silikonpunkt zum Beispiel, der an einer bestimmten Stufe auf dem Heizungsthermostat klebt. Oder eine bunte Serviette, die ein transparentes Glas auf dem Tisch erkennbar macht. Simple Dinge, die als Orientierungshilfe für Menschen dienen, die die Welt anders wahrnehmen als die sehende Mehrheitsgesellschaft. Über diese und weitere Hilfsmittel und darüber, wie der Alltag überhaupt bewältigt werden kann, wenn man nichts mehr oder kaum noch etwas sieht, informiert „Blickpunkt Auge“, ein Beratungsangebot des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), das es deutschlandweit gibt. In Hanau finden Betroffene und deren Angehörige im Büro im Haus am Steinheimer Tor seit nunmehr zehn Jahren Rat und Unterstützung. Bevor es aber um konkrete Alltagshilfe geht, brauchen viele der Menschen, die hierher kommen, zunächst mal ein offenes Ohr – und manchmal auch eine Schulter zum Ausweinen.
Wir hören, riechen, schmecken und fühlen, doch den weitaus größten Teil unserer Umweltinformationen nehmen wir mit den Augen wahr. Dass wir sehen können, ist einer jener komplexen Abläufe unseres Körpers, die wir als völlig selbstverständlich begreifen, so lange sie funktionieren. In Deutschland leiden laut einer Gesundheitsstudie der Uni Mainz rund zehn Millionen Menschen an einer Augenerkrankung, die potenziell zum Verlust der Sehfähigkeit führt. Da hiervon in der Mehrzahl ältere Menschen betroffen sind, wird der demografische Wandel diese Zahl mutmaßlich künftig weiter steigen lassen. Zu den häufigsten Erkrankungen in diesem Bereich zählen die Altersabhängige Makuladegeneration (AMD), bei der in der Makula, dem Punkt des schärfsten Sehens, Sehzellen zugrunde gehen, Grauer oder Grüner Star sowie diabetisch bedingte Augenveränderungen. Die Diagnose eines drohenden Sehverlusts ist immer ein Schock. Und danach ist nichts mehr, wie es war. Das weiß auch Silvia Schäfer nur zu gut – als Betroffene und langjährige Leiterin der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“. Nicht selten breche da in der Augenarztpraxis eine Welt zusammen, sagt Schäfer. Immer häufiger hätten die Mediziner aber auch den Flyer der Beratungsstelle parat – und Betroffene in einer Ausnahmesituation einen Ansprechpartner. 73 persönliche Beratungen gab es im vergangenen Jahr bei „Blickpunkt Auge“ in Hanau, 250 weitere Menschen berieten Schäfer und ihr Kollege in der Beratungsstelle telefonisch. Fragen gibt es unzählige; welche am drängendsten sind, ist individuell sehr verschieden.
„Die meisten Betroffenen fallen in ein tiefes Loch“
Ich muss dann schauen,
an welchem Punkt sich der Mensch gerade befindet, wo ich ihn auffangen kann“,
sagt die 62-Jährige. Manche seien wütend, andere vor allem verzweifelt,
die meisten fielen erst einmal in ein tiefes Loch. Silvia Schäfer versucht
zu vermitteln, dass das Leben nicht aufhört, wenn die Sehkraft ganz oder
in weiten Teilen verschwindet, dass es viele Möglichkeiten gibt, auch als
sehbehinderter Mensch aktiv am Leben teilzunehmen. Ob es um die unterschiedlichen
Erkrankungen als solche geht, um rechtliche und finanzielle Ansprüche,
Hilfsmittel wie Bildschirmlesegeräte und sprechende Küchenwaagen oder
Tipps für den Alltag – Schäfer kann dabei auf ihr Fachwissen
als zertifizierte Beraterin zurückgreifen und auch auf eigene Erfahrungen
als selbst fast vollständig erblindeter Mensch. Für viele Betroffene
sind Blindenstöcke oder tastbare Uhren bis dahin die sprichwörtlichen
böhmischen Dörfer – als Sehender befasst man sich eher selten
damit, mit welchen Hilfsmitteln blinde Menschen ihren Alltag bewältigen.
Gerade deshalb wähnen sich Betroffene oft schier unlösbar scheinenden
Herausforderungen gegenüber, weil schon ganz alltägliche Kleinigkeiten
plötzlich zum Problem werden. Ein Brot schmieren oder ein Telefon bedienen
zum Beispiel. Sich in der eigenen Wohnung zurechtzufinden scheint unmöglich,
ganz zu schweigen von der Vorstellung, jemals wieder allein beim Bäcker
Brötchen zu holen.
Was über tröstende Worte und fundierte Beratung hinaus helfe, sei
das Erleben von Menschen, die trotz Sehbehinderung ihr Leben meisterten, weiß
Silvia Schäfer. In der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ gibt
es viele nützliche Dinge, die dabei unterstützen. Schäfer ist
im Umgang mit alledem geübt, findet sich dank Sprachausgabe trotz Touchscreen
scheinbar mühelos auf ihrem iPhone zurecht, schreibt E-Mails am PC und
ist dank eines Organizers mit Sprachausgabe und Brailletastatur perfekt organisiert.
Klar wird dennoch: Als blinder oder sehbehinderter Mensch am Leben teilzuhaben
ist erheblich aufwendiger, anstrengender. Und erfordert stets volle Konzentration.
„Es ist mühselig, ja“, sagt sie, „aber es ist möglich.“
Wer Silvia Schäfer trifft, erlebt eine offene, zuversichtliche und lebensbejahende
Frau, die mit sich im Reinen scheint. Das habe, sagt sie selbst, auch damit
zu tun, dass der Sehverlust bei ihr nicht plötzlich kam, sondern ein langsam
fortschreitender Prozess war, der schon im Kindesalter begann. „Ich bin
da sozusagen hineingewachsen.“
Schon als Grundschülerin kann sie in der Schule bald nicht mehr erkennen,
was an der Tafel steht. Das Problem wird pragmatisch „gelöst“,
indem sie immer eine Bankreihe weiter nach vorne gesetzt wird. „Am Ende
des Schuljahrs saß ich in der ersten Reihe, und es ging trotzdem nicht“,
erinnert sich Schäfer.
Mit zehn Jahren stellt eine Ärztin eine erste Diagnose: juvenile Makuladegeneration.
„Das Kind wird nicht blind“, ist die Medizinerin überzeugt.
Eine Sehkraft von etwa zehn Prozent werde bleiben. Sie irrt sich. Doch für
Schäfers Eltern ist es zunächst eine große Erleichterung, dass
ihre Tochter weiter in ihre „normale“ Schule gehen kann und nicht
in eine Blindenschule muss. Im Nachhinein eine Fehlentscheidung, reflektiert
Schäfer heute, was ihr damals noch nicht bewusst ist. „Es war einfach
eine unglaubliche Anstrengung, ich war durch meine geringe Sehkraft extrem benachteiligt.“
Bis zur mittleren Reife quält sie sich irgendwie durch, verlässt dann
die Schule. Im Deutschland der 70er-Jahre sind die beruflichen Perspektiven
für blinde oder sehbehinderte Menschen extrem eingeschränkt. „Ich
hatte genau zwei Optionen: Telefonistin oder medizinische Masseurin.“
Sie entscheidet sich für Letzteres, erlebt in ihrer Ausbildung erstmals,
wie Lernen auch sein kann: Es gibt Lernmaterial in großer Schrift und
als Kassetten zum Hören, die Lehrer nehmen Rücksicht.
Abschied von der visuellen Welt
Mit 20 realisiert Schäfer,
dass mit ihrer Diagnose etwas nicht stimmen kann, und schon bald bestätigt
sich, was sie nach umfangreicher Selbstrecherche bereits ahnt: Sie leidet an
einer sogenannten Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (ZSD), einer genetisch bedingten
Erkrankung, die die gesamte Netzhaut betrifft. Sie erlebt, wie ihr ohnehin geringes
Sehvermögen über die Jahre mehr und mehr schwindet, wie ihr ihre visuelle
Welt Stück für Stück entgleitet.
Ein Verlust von Selbstbestimmtheit, der auch mit einer gewissen Scham verbunden
ist. „Oft habe ich Menschen auf der Straße nicht erkannt und deshalb
nicht gegrüßt, wurde für eingebildet gehalten“, erinnert
sich Schäfer, die damals noch in Bad Soden-Salmünster lebt. In der
vertrauten Umgebung der Kleinstadt wehrt sie sich lange dagegen, einen Blindenstock
zu nutzen. „Ich war einfach noch nicht so weit, mich zu outen“,
sagt sie. Als sie sich 2005 doch dafür entscheidet und ein sogenanntes
Mobilitätstraining absolviert, ist sie überrascht, wie sehr dieses
Hilfsmittel ihren Alltag erleichtert.
Seit 2010 lebt Silvia Schäfer nun in Hanau, und in der Großstadt
mit einer Sehkraft von etwa einem Prozent ist der Langstock ein unverzichtbares
Utensil. Mittlerweile findet sie sich gut zurecht, lobt die Hilfsbereitschaft
der Hanauer und hat ihren Umzug nie bereut. Dabei war es weit mehr als nur das:
2010 entschied sich Schäfer, die vorher schon fünf Jahre lang zum
Leitungsteam der BSBH-Bezirksgruppe Hanau gehörte, ihren bisherigen Job
zu kündigen und das Hanauer Büro zu übernehmen. Neue Wohnung,
neue Stadt, neuer Job: „Das war schon eine ganze Menge für jemanden,
der Routinen braucht“, gibt sie zu. Und erinnert sich mit Grausen an die
Zeit des Hanauer Stadtumbaus: „Gefühlt jeden Tag irgendwo anders
eine Baustelle – ein Alptraum für sehbehinderte Menschen“.
Weitaus schlimmer als das aber empfindet Silvia Schäfer die Einschränkungen
im sozialen Bereich. „Dass ich nie Blickkontakt aufbauen, nie die Mimik
meines Gegenübers wahrnehmen kann, ist für mich am schlimmsten.“
Das merkt die 62-Jährige auch im privaten Umfeld. Während ihre beiden
Söhne ganz selbstverständlich mit den Einschränkungen der Mutter
aufwuchsen, bleibt die Sehbehinderung für ihre mittlerweile drei Enkel
durch die räumliche Entfernung etwas Fremdes. Dass Silvia Schäfer
nicht sehen kann, wenn sie ihr das Lieblingsspielzeug hinhalten oder sie anlächeln,
ihnen keine Bücher vorlesen kann, schmerzt sie. „Ich kann nicht die
Oma sein, die ich gerne wäre.“
Was Silvia Schäfer heute noch sehen kann, ist nicht mehr als hell und dunkel,
ein kleiner Fetzen hier und da, „ein minibisschen“, wie sie selbst
sagt, aber auch das helfe ihr bei der Orientierung. Deshalb treibt sie die Sorge
um, dass auch dieser Rest irgendwann verschwindet. „Ich weiß nicht,
wie schlecht es noch wird“, sagt Silvia Schäfer. Und wird dennoch
weiter versuchen, das Positive zu sehen.
Die Beratungsstelle „Blickpunkt
Auge“ ist im „Haus am Steinheimer Tor“, Steinheimer Straße
1, in Hanau zu finden. Eine Zweigstelle gibt es in Nidderau im Familienzentrum,
Geringer Ring 5. Nach Abschluss einer umfangreichen Ausbildung der derzeit drei
Berater ist die Beratungsstelle seit Februar 2013 nach den Richtlinien der Organisation
„Blickpunkt Auge – Rat und Hilfe bei Sehverlust“ des deutschen
Blinden- und Sehbehindertenverbandes qualifiziert.
Silvia Schäfer ist unter Telefon 06181/956663 oder per E-Mail an s.schaefer@blickpunkt-auge.de
zu erreichen. Weitere Infos zum Thema finden sich auch im Internet unter www.tibsev.de.
Text und Bilder: GNZ und Hanauer Bote mit freundlicher Genehmigung von Nicole
Schmidt, Pressehaus Naumann
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