Hanauer Anzeiger vom 12.08.2023, Seite 9

Wo geht es hier weiter?
Mängel im Leitsystem für Blinde in Hanau

Silvia Schäfer mit Stock auf einem Gehweg
An der Nußallee vis-à-vis des Altenheims endet der Führstreifen, der alte Bürgersteig beginnt.
Im Bild nicht zu sehen: Auf der rechten Seite befindet sich auch noch ein Parkplatz. Fotos: Detlef Sundermann

Hanau – Die Stadt Hanau will für Radler und Fußgänger attraktiv werden. In einem zwölf Monate dauernden Projekt soll hierzu ein Konzept aufgestellt werden, unter Bürgerbeteiligung. Silvia Schäfer, Bezirksleiterin des Blinden- und Sehbehindertenbundes in Hessen und Leiterin der Hanauer Beratungsstelle Blickpunkt Auge, befürchtet, dass bei der Planung die Belange der Blinden und Sehbehinderten wenig Gehör finden. Dass diese sich selbstständig in der Stadt bewegen können, sei gegenwärtig nur eingeschränkt möglich, was auch für die gesellschaftliche Teilhabe gelte. Zudem würden manche Gefahrenquellen von der Stadt einfach nicht erkannt, so die Kritik. Wie arg es gegenwärtig ist, zeigt Schäfer dieser Zeitung in einem kleinen Rundgang im Bereich Nußallee und Westbahnhof, auf für die Vorsitzende bekanntem und unbekanntem Terrain.

„Und jetzt, und jetzt? Wo geht es hier weiter“, fragt Schäfer. „Ratsch, ratsch, ratsch“ fährt ihr langer weißer Stock mit der dicklichen Kunststoffscheibe am Ende in Scheibenwischermanier über das Trottoir. Die weiße Linie mit rinnenförmigen Vertiefungen hört plötzlich auf. Die taktile Bodenleitlinie an der Südseite der Nußallee auf Höhe der Martin-Luther-Stiftung trennt für Menschen wie Schäfer fühlbar Geh- und Radweg. Nun muss die Frau, die ob ihrer Augenkrankheit über die Jahre nahezu erblindet ist, sich langsam und unsicher mit dem Stock fortbewegen. Bloß nicht den Radlern in die Quere kommen!

Sie tastet sich nach links zu den Grundstücksgrenzen, die sie von nun an führen. Ein metallisches „Klack“ ertönt. Schäfer streckt die linke Hand behutsam nach vorne, um die Tonquelle zu erkunden. Ein Laternenmast. Dass sich links von ihr zwischen Hauswand und Gehweg eine Reihe schräg geparkter Auto befindet, nimmt sie hingegen nicht wahr. „Ich vernehme geringfügig, dass sich das Geräuschbild an dieser Stelle geändert hat“, sagt Schäfer. Menschen, die blind zur Welt gekommen sind, besitzen eher die Fähigkeit, anhand der Akustik ihre Umgebung deutlich einordnen, sagt sie. „Ich verstehe nicht, warum die Leitlinie hier enden musste“, meint Schäfer.

Auf dem gegenüberliegenden Geh- und Radweg gibt es taktile Felder hingegen nur im Bereich der Ampel. Seit geraumer Zeit steht dort überdies ein tischplattengroßes Umleitungsschild, dessen aus geschichteten Eisenblöcken bestehender Sockel die Gehwegseite einnimmt. Ein gefährliches Hindernis. Man muss auf den Radweg ausweichen. Der Bürgersteig ist an der Ecke Nußallee/Katharina-Belgica-Straße ohnehin nicht breit. Da habe sich jemand beim Aufstellen nicht viele Gedanken gemacht, lautet Schäfers Kommentar. „Ich habe bei der Stadt nachgefragt, ob es nicht eine andere Möglichkeit gibt, etwa das Schild auf ein Grundstück zu stellen“, sagt sie. Es sei kein anderer Standort möglich, lautete die Antwort. Ein klares Nein von der Stadt habe sie auch in einer anderen Angelegenheit erhalten: bezüglich der grauen Eisenpoller, die ein Parken auf dem Gehweg verhindern sollen. Für Menschen mit stark eingeschränkter Sehkraft, die aber noch keinen Blindenstock benötigen, seien sie schwierig zu erkennen. Schäfers Vorschlag, die Pfosten rot-weiß zu lackieren, habe die Stadt aus ästhetischen Gründen abgelehnt. Am Steinheimer Tor, wo Blickpunkt Auge seine Beratungsstelle hat, geht es offensichtlich auch anders, dort haben die grauen, hüfthohen Stangen immerhin einen gelben Kopf.

Als vorbildlich beschreibt Schäfer die Situation am Westbahnhof. Dort ist vor einigen Jahren die Kreuzung zu einem Kreisverkehr umgebaut worden, wobei auch mehr Fläche für Passanten und Radfahrer entstand. Dass viele Velonutzer wohl aus Bequemlichkeit stadteinwärts den Radweg in falscher Richtung befahren, trübt jedoch den Gesamteindruck. „Die Fahrradfahrer sehen so nicht das Rotlicht der Fußgängerampel, das die Autofahrer sehen“, heißt es. „Dann wird mir schon mal über den Stock gefahren, wenn ich losgehen will“, sagt Schäfer.

Quellenangabe: Hanauer Anzeiger vom 12.08.2023, Seite 9

 

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