Beständiger Kampf um Mobilität
Volkhard Pritsch erblindete von einem Tag auf den anderen und engagiert sich seither für die Sache der Behinderten


Gelnhausen · Sicheren Fußes bewegt sich Volkhard Pritsch mit seinem Taststock durch das Foyer des Kreistagsgebäudes. In seiner kleinen Besucherführung verweist er auf die markierten Treppengeländer und die breiten, teils automatisch öffnenden Türen die auch für blinde und gehbehinderte Menschen ausgerichtet sind. "Das Main-Kinzig-Forum ist behindertengerecht", versichert der Vorsitzende des Behindertenrates. Als er den Lift betritt, drückt er gezielt auf den richtigen Fahrstuhlknopf. Denn dank ertastbarer Schrift findet er problemlos die entsprechende Etagenzahl. "Zweiter Stock" tönt es aus der Lautsprecheranlage: Hier befindet sich sein Büro.
Im Mai hat der 63-jährige Volkhard Pritsch den Vorsitz des Behindertenrates Main-Kinzig übernommen. Der studierte Betriebswirt wurde im Sommer 1980 blind. Von einem Tag auf den anderen und aus ungeklärter Ursache. "Mein Leben änderte sich gravierend", erinnert er sich. Er konnte kein Auto mehr fahren, keine Zeitung mehr lesen. Seinen gut dotierten Beruf im Bereich Markterhebung musste er aufgeben. Gemeinsam mit seiner Frau Marlene und der gemeinsamen Tochter zog er von Frankfurt nach Niedermittlau und baute sich dort ein neues Leben auf.
"Ich habe mir die Punktschrift zu Hause auf der Terrasse selbst beigebracht", erzählt er. Im Anschluss belegte er einen siebenmonatigen Fortgeschrittenen-Kurs beim Berufsförderungswerk Veitshöchheim. Dort lernte er auch, sich mittels Stock und Gehör zurechtzufinden. Während seiner Schulzeit im fränkischen Ort stieß er auf Menschen mit ähnlichem Schicksal: "Ich habe erfahren, dass auch das Leben als Blinder schön sein kann." Jedoch scheiterte sein Wunsch, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Mit 41 Jahren musste er in Rente gehen.
Pritsch engagiert sich seit vielen Jahren in Behindertenorganisationen. Er gehört dem Blinden- und Sehbehindertenbund Hessen an, wo er lange im Landesvorstand tätig war. Außerdem ist er Vorsitzender der Technischen Informations- und Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte in Hanau. Seit seiner Gründung ist er im Kreis-Behindertenrat aktiv. 2006 übernahm er als Nachfolger von Heinz Preis den Vorsitz. "Es ist ein harter Job", erklärt Pritsch. Denn leider müssten behinderte Menschen immer wieder um ihre Mobilität kämpfen. Das zu beackernde Feld ist riesig.
Es fehle beispielsweise eine durchgehende Bus- und Bahnverbindung zwischen Fulda und Frankfurt, die problemlos mit dem Rollstuhl zu bewältigen sei, erklärt Pritsch. Es hapert in erster Linie an genügend großen Rangierflächen in den Zugabteilgängen. Um eigenständig reisen zu können, ist ein Rollstuhlfahrer außerdem auf Niederflurbusse angewiesen, deren Einstieg sich bei Bedarf auf Höhe des Bordsteins absenken kann.
An vielen Bahnhöfen im Kreis stießen Geh- oder Sehbehinderte auf massive Schwierigkeiten. Treppenlifte und Hubwagen zu Bahnsteigen sind manchmal nur umständlich vom Personal zu bedienen, die Einstiegshöhe ist nicht immer auf die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahrers angepasst. Aufmerksamkeits- und Richtungsfelder, die Blinden den Weg zum Einstieg weisen, fehlen ebenfalls an so mancher Stelle.
Eine besonders hohe Gefahr für Blinde Menschen sieht Pritsche in der Regelung vieler Kreisverkehre. Beim Überqueren der Straße müsse sich der Fußgänger per Gehör zunächst auf den ausfahrenden, ab der Straßenmitte auf den einfahrenden Verkehr konzentrieren. Damit ein Sehbehinderter den Kreisel wirklich sicher überqueren könne, brauche man Aufmerksamkeitsfelder auf beiden Straßenseiten sowie auf einer Fußgängerinsel in der Mitte. Nur so können Gehweg und entsprechende Fahrbahnabschnitte von Nicht-Sehenden sicher unterschieden werden. Zusätzliches Risiko: "Der Mittelkreisel schränkt oft auch die Sicht des Autofahrers ein."

Wegweisender Leitfaden

Als einen Durchbruch sieht Pritsch den neuen Leitfaden "Ungehinderte Mobilität", den das Hessische Landesamt für Straßen- und Verkehrswesen erst vor wenigen Tagen veröffentlicht hat. Die neue Broschüre, die an alle hessischen Städte und Gemeinden adressiert ist, wurde gemeinsam mit Behindertenverbänden entwickelt. Sie zeigt anhand erfolgreicher Beispiele im Kreis, wie sich Stufenfreiheit für Gehbehinderte und sichere Orientierung für Sehbehinderte vereinbaren lassen.
Der Kreis-Behindertenrat selbst plant derzeit einen Städte-Wegweiser für Behinderte, in dem wichtige Informationen über Sehenswürdigkeiten, Gaststättenbetriebe oder städtische Anlaufstellen im Kreis verzeichnet sind. Der Guide soll in gedruckter Fassung sowie elektronisch im Internet erscheinen. Alle Behindertenbeauftragten des Kreises sind gerade dabei, das Material per Fragebogen einzuholen. Der Erscheinungstermin steht noch nicht fest, sagt Pritsch schmunzelnd. "Denn auch das ist eine riesige Aufgabe."

Christine Semmler


Der Leitfaden "Unbehinderte Mobilität" kann unter www.hsvv.hessen.de unter der Rubrik "Service für Sie/Infomaterial" heruntergeladen werden.

 

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