Auf dieser Seite finden Sie einen Bericht unseres Mitglieds Meinrad Rohner über seine Erblindung und wie er sich damit auseinandersetzte.
Sie können den Bericht als mp3 anhören und/oder lesen.

 

Meinrad Rohner: Wie mir meine Erblindung meine Augen und meinen Mund öffnete

 

Meinrad Rohner mit Blindenlangstock

Ich heiße Meinrad Rohner und hier hören Sie einen Text über meine Erfahrungen mit meiner Erblindung, den ich vor einiger Zeit schrieb und der in der Zeitschrift Augenblick veröffentlicht worden war.

Es war im Januar 2002, als ich mit einem Freund beim Italiener saß. Während wir auf unsere Spaghetti warteten, hatte ich den Eindruck, dass sich plötzlich in meinem linken Auge ein mehrarmiger Riss von ganz oben bis ganz unten auftat. Es war nicht schmerzhaft, aber außerordentlich erschreckend.

Als ich später zuhause durch unseren Innenhof lief, sah ich, wie sich in meinem linken Auge eine Art Vorhang herabsenkte, an dessen unterem Rand eine Lichterkette flackerte. Ich hatte keinen Zweifel, dass etwas Gravierendes geschehen war.

Mein Augenarzt wies mich am nächsten Tag in die Augenklinik ein. Diagnostiziert wurde eine Netzhautablösung, die ich selbst durch den bereits erwähnten Vorhang wahrnahm. Ich hatte auch den Eindruck, dass sich dieser Vorhang langsam weiter absenkte. Erst nach zwei Tagen Wartezeit war ein Operationsplatz frei, sodass ich dem bedrohlichen Geschehen in meinem Auge eine ganze Zeit lang zuschauen musste.

Zu meinem Erstaunen hatte diese Erfahrung auf mich ganz unterschiedliche Wirkungen.
Zum einen war ich erschrocken und empfand große Angst davor, was jetzt geschehen würde. Ich bemerkte außerdem, wie stark eingeschränkt die Sehkraft meines rechten Auges bereits war, obwohl dort keine akute Netzhautablösung stattgefunden hatte. Zum anderen spürte ich, dass etwas Grundlegendes in meinem Leben dabei war, sich zu verändern, und ich empfand diese Veränderung überraschenderweise eher als befreiend. Jedenfalls wurde ich sehr ruhig und als Margot, meine Frau, kam, um mir die für den Krankenhausaufenthalt notwendigen Utensilien zu bringen, konnte sie die Veränderung bei mir sofort erkennen. Tatsächlich war diese Erfahrung für mich eine Art Aufwachen und ich bekam Kontakt zu einem tieferen Teil in mir, dem ich in den Anspannungen und Anstrengungen der vergangenen Monate und Jahre keinen Raum gegeben hatte. Ich war plötzlich zu völliger Untätigkeit gezwungen und irgendwie konnte ich mich mit einem Gefühl der Erleichterung darauf einlassen. Doch erlebte ich auch große Trauer und ich erinnere mich zum Beispiel an einen Moment vor dem Kaffeeautomaten, als es mir nicht gelang, den richtigen Knopf zu finden. Da empfand ich eine mir bisher unbekannte Hilflosigkeit und die Tränen flossen mir über die Wangen.
In diesem Moment bemerkte ich, dass ich jetzt vielleicht häufiger auf Hilfe angewiesen sein würde. Doch die damit verbundene Unsicherheit wurde nicht zum tragenden Gefühl meines neuen Lebens. Tragend war vielmehr eine mir bis dahin nicht bekannte innere Ruhe und ein stilles Gewahrsein meiner Umgebung.

Im Zuge der Untersuchungen zeigte sich dann, dass nicht nur mein linkes Auge von der Netzhautablösung betroffen war, sondern es bestätigte sich die Sehschwäche meines rechten Auges und ein hohes Risiko einer Netzhautablösung auch auf dieser Seite. Tatsächlich war mein linkes Auge bis dahin das aktivere gewesen, das ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, vorrangig zum Sehen benutzt hatte.

Die Operation war insofern erfolgreich, als sich die Netzhaut im linken Auge wieder anlegte und ich im Laufe der nächsten Wochen wieder besser sehen konnte. Der Glaskörper war durch ein Gas ersetzt worden und langsam bildete sich eine Flüssigkeit, die seine Aufgaben zumindest partiell übernehmen konnte. Trotzdem begann damals eine Veränderung meiner Sehkraft, die im Laufe der folgenden Jahre in eine Erblindung mündete. Seit nunmehr mehr als zwölf Jahren habe ich im linken Auge überhaupt keine Lichtwahrnehmung mehr und mit dem rechten Auge kann ich heutzutage nur noch einen Hauch von Lichtschein wahrnehmen. Zu der Schwächung und den Verletzungen der Netzhaut war im Laufe der Jahre eine Atrophie des Sehnervs dazugekommen, die den eigentlichen Grund für meine Erblindung darstellte.

Kurzsichtigkeit und Sehschwäche schon in der Kindheit

Ich war schon als Kind vor Schulbeginn sehr kurzsichtig gewesen und hatte wohl seit etwa meinem fünften Lebensjahr eine Brille getragen, die im Laufe der Zeit immer stärker wurde. Über viele Jahre wurde auf beiden Augen eine Dioptrie von -15 gemessen. Die starken Brillengläser konnten jedoch meine Sehschwäche nie vollständig ausgleichen. So musste ich in der Schule immer ganz vorne sitzen, dennoch konnte ich manches Detail trotzdem nur schwer oder gar nicht sehen. Ich konnte zwar Fahrrad fahren, mich an Bergtouren beteiligen und bin auch begeistert Ski gefahren, doch meine Sehfähigkeit reichte nicht aus, um die Führerscheinprüfung zu bestehen.

Nach mehreren Jahren der Berufstätigkeit und einem späten Studium der Volkswirtschaftslehre arbeitete ich in der Klimaforschung und tüftelte viele Jahre an einem Computermodell. Dabei überanstrengte ich meine sowieso schon schwachen Augen immer wieder erheblich. Mein Arbeitsleben war nicht nur von häufigen Kopfschmerzen, sondern auch von ausgewachsenen Migränen begleitet, die ich auf die Überanstrengung meiner Augen beim Lesen und beim Arbeiten am Computerbildschirm zurückführte. Mein Nacken war steif wie ein Brett und ich hatte mir früh eine nach vorn gebeugte Haltung angewöhnt. Daran erkennt man, dass ich einen Lebensstil gepflegt hatte, der meine Augenkrise eher begünstigte. In der Art und Weise meiner Lebensführung gab es jedenfalls wenig, was meiner Augengesundheit zu Gute gekommen wäre.

Auf neuen und sehfreundlicheren Wegen

Nach der Erfahrung der Netzhautablösung änderte sich das alles grundlegend. Ich konnte die Schwächen meiner Augen nicht mehr ignorieren. In dieser Zeit suchte ich mit Margots Hilfe Wege und Mittel, um zur Heilung meiner Augen beizutragen. Ich ließ mich mit Augenakupunktur behandeln, nahm meine Meditationspraxis wieder auf und versuchte die verschiedensten Behandlungs- und Entspannungsmethoden. Bereits im Herbst des Jahres, das für mich mit einer Netzhautablösung begonnen hatte, nahm ich an einer Ausbildung zum Kursleiter Augenschule bei Wolfgang Hätscher-Rosenbauer teil. Ich war damals 51 Jahre alt und ich wollte alles kennenlernen, was irgendwie den Augen guttut, die Sehkraft fördert und mir insgesamt zu einem bewussteren Lebensstil verhilft. Im darauffolgenden Jahr begann ich mit der Ausbildung zum Lehrer der F. M. Alexander-Technik zuerst in Heidelberg und später in Freiburg. Hier lernte ich in relativ kurzer Zeit ein völlig neues Körpergefühl kennen. Ich konnte meinen Hals plötzlich wieder frei bewegen. Ich erlebte, was eine leichte, mühelose Aufrichtung sein kann. Außerdem bekam ich einen ganz neuen Bezug zu meinem Seelenleben. Spiritualität und Fragen nach dem Sinn bekamen wieder einen angemessenen Platz in meiner Lebensgestaltung.

In dieser Zeit hörte ich auch von Peter Grunwald, einem Alexander-Technik- und Sehlehrer, der in Neuseeland lebt und der einen eigenen und kreativen Weg des bewussten Umgangs mit dem Sehen entwickelt hat (die sogenannte EyeBody-Methode). Hier fand ich etwas, das mich tief ansprach und auf das ich mich mit großem Engagement einließ. Ich nahm nicht nur an seinen Seminaren in Europa teil, sondern flog auch in fünf aufeinanderfolgenden Jahren jeweils im Januar zu seinem Dreiwochenkurs nach Neuseeland. Was ich in dieser Zeit bei Peter lernte, hat mein Leben tief geprägt und hilft mir auch heute täglich im Umgang mit meiner Blindheit.
Den Prozess der Erblindung konnte es jedoch nicht aufhalten. Was ich in dieser Zeit vor allem lernte, war ein bewusster Umgang mit den feinenergetischen Dimensionen unseres Sehens und unseres Daseins.

Kurzum, nach meiner Augenkrise orientierte ich mich hinsichtlich meines Lebensstils und meiner Berufstätigkeit völlig neu. Ich lernte nicht nur, Sehtraining und Alexander-Technik zu unterrichten. Ich ließ mich auch auf einen mehrjährigen Lernprozess ein, in dem ich die personzentrierte Gesprächsführung und Beratung eingehend studierte. Ich suchte also nach einer Berufstätigkeit, die einem achtsamen Umgang mit meinen Augen nicht im Weg stand, sondern diesen vielmehr förderte. Indem ich in Einzelunterricht und in Gruppenkursen anderen das beibrachte, was ich auf meinem Weg lernte, vertiefte ich mein Verständnis kontinuierlich und half gleichzeitig auch mir selbst.

Blindentechnik und alltägliche Kommunikation.

Mir war schnell klar geworden, dass ich mein Leben auch in praktischer Hinsicht umstellen musste. War trotz meiner Sehschwäche der Sehsinn mein primärer Bezug zur Außenwelt gewesen, so lernte ich nun viel mehr über mein inneres Sehen, das Hören und Tasten. Diese Sinne bekamen eine sehr viel größere Bedeutung für meine Orientierung im Alltag. Im Laufe der Jahre lernte ich, mit Hilfsmitteln umzugehen, wie dem Blindenlangstock, ohne den ich heute das Haus nicht verlassen würde und der mich entlang von Gehsteigen und Wegesrändern führt, allerdings nicht vor Zusammenstößen auf Kopfhöhe schützt. Ich lernte, mit einer Sprachausgabe, einem sogenannten Screenreader, meinen Computer zu bedienen, sodass ich zum Beispiel meine E-Mails hören und auch selbst welche schreiben kann. Ich bekam einen speziellen MP3-Player und Hörkalender für Blinde, der heute meinen Zugang zu Lesestoff darstellt und es mir ermöglicht, meine Termine zu organisieren. Durch den Zugang zur Blindenbibliothek kann ich auf das große Angebot an Blindenhörbüchern zugreifen. Den größeren Teil meines Lesestoffs stellen allerdings Bücher dar, die mein Assistent einscannt, in einen Text und schließlich in eine Audiodatei umwandelt. Meine sprechende Uhr sagt mir die Zeit an und teilt mir am Morgen mit, dass es jetzt Zeit zum Aufstehen ist. Und vor zwei Jahren habe ich auch gelernt, wie ich als Blinder ein iPhone bedienen kann. In dieses ist eine Sprachausgabe zum Glück bereits eingebaut und so ist es mir möglich, mit dem iPhone zu telefonieren, Nachrichten zu empfangen und zu schreiben, die Wettervorhersage oder Zugverbindungen nachzuschlagen oder mir am späteren Abend noch die Tagesschau anzuhören. Die Entwicklung von elektronischen Hilfsgeräten für Blinde hat sich in den vergangenen Jahren zum Glück sehr vorteilhaft entwickelt. Als ich mich das erste Mal in diese Richtung erkundigt hatte, erschien mir die damalige Computerstimme noch ziemlich abschreckend. Heute ist mir die nächste Generation an Computerstimmen eine große Hilfe in meinem Alltag.

Doch die Herausforderungen des Blindseins lassen sich natürlich nicht allein durch technische Geräte bewältigen. Vielmehr hat mich meine Blindheit dazu aufgefordert, ein ganz neues Verhältnis zu mir selbst und auch zu anderen Menschen zu finden.
Von meiner Persönlichkeit her bin ich eher introvertiert und vielleicht sogar ein bisschen kontaktscheu. Nun allerdings muss ich, um mich zurechtzufinden, ständig Leute ansprechen, nach diesem oder jenem fragen, und sei es nur, um herauszufinden, ob gerade jemand vor mir steht oder nicht. So würde ich sagen, dass mir meine Blindheit nicht nur die Augen für viele Dinge geöffnet hat, die mir vorher verschlossen waren. Sie hat mir auch meinen Mund geöffnet und es fällt mir heute viel leichter als in den Jahren des Sehens, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen. Insgesamt empfinde ich mein Leben heute als sehr viel erfüllender und reicher, doch ist mir auch der Verlust des Sehens immer wieder einmal schmerzlich bewusst und ich erlaube mir Traurigkeit und freundliche Erinnerung an die wunderbare Welt des äußerlichen Sehens.

Heute lebe ich als Lehrer der F. M. Alexander-Technik und als Lebens- und Konfliktberater in Maintal (zwischen Frankfurt und Hanau).

In meiner Beratungspraxis führe ich klärende Gespräche überwiegend am Telefon und ich unterstütze sowohl Sehende als auch seheingeschränkte Menschen dabei, ihren Weg durchs Leben zu finden, persönlich zu wachsen und mit Belastungen und Konflikten konstruktiv umzugehen.

Im Falle von Fragen können Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sich gern an mich (Meinrad Rohner) wenden.

Mein Telefon lautet: 06109-76 20 34
Und meine Webseite ist unter www.nachinnen-nachaussen.de zu finden.

 

 

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