Meinrad
Rohner
24.06.2024
In
diesem
Erfahrungsbericht möchte ich beschreiben, wie ich heute als Blinder
Zugang zu Lesestoff habe. Das ist wahrscheinlich vor allem für Menschen
von Interesse, die selbst sehbehindert oder blind sind. Ich heiße
Meinrad Rohner und ich freue mich, wenn auch andere sich für meine
Erfahrungen interessieren. Meine Erblindung hat vor mehr als 20 Jahren
begonnen. Und da ich selbst immer schon gerne und viel gelesen habe,
habe ich mich natürlich dafür interessiert: Wie ist es mir unter diesen
neuen Bedingungen möglich, zu dem Lesestoff zu kommen, mit dem ich mich
gerne beschäftigen möchte? Darüber und auch, wie sich das in den
letzten Jahren aufgrund neuer technischer Möglichkeiten
weiterentwickelt hat, möchte ich hier berichten. Dieser Bericht enthält
keine Bedienungsanleitungen, sondern zeigt Möglichkeiten zum Anhören
von Lesestoff auf. Erwähnen möchte ich auch, dass ich nie die
Blindenschrift Braille gelernt habe, die meines Wissens für viele
Jahrzehnte der wichtigste Zugangsweg zu Lesestoff für blinde Menschen
darstellte. Daher kann ich zu Braille-Büchern auch nichts sagen.
In
der allerersten Zeit meiner Erblindung war ich sehr dankbar, wenn mir
meine Frau, eine Freundin oder ein Freund etwas vorgelesen haben. Bald
hörte ich auch von den sogenannten Daisy-Büchern. Daisy ist ein
speziell für Blinde entwickeltes Hörbuchformat, das es ermöglicht,
vorgelesene Bücher zu hören und in diesen Büchern zu navigieren. Das
bietet gegenüber anderen Hörbüchern meist große Vorteile. Es gibt eine
riesige Anzahl solcher Bücher in speziellen Blindenbibliotheken. Ich
selbst benutze katalog.blista.de. Früher konnte man sich diese Bücher
auf einer CD zusenden lassen. Das geht wahrscheinlich auch heute noch.
Seit einiger Zeit ist es möglich, sich diese Hörbücher auch über das
Internet direkt auf den PC herunterzuladen. Für das Abspielen der
Daisy-CDs, aber auch für heruntergeladene Daisy-Dateien, benötigt man
ein spezielles Abspielgerät. Man könnte sich die CD zwar auch mit einem
CD-Player abspielen, der mp3-Dateien wiedergeben kann. Doch dann hat
man die Vorteile des Daisy-Formats nicht. Neuerdings gibt es von Blista
auch die App Leselust, um sich Daisy-Bücher direkt aus der Bibliothek
anzuhören. Diese App benutze ich nur, wenn ich unterwegs bin. Ansonsten
ziehe ich wie weiter unten beschrieben die Voice Dream Reader App vor.
Für
viele Jahre hatte ich in der Küche einen Daisy-CD-Player, mit dem
entweder ich allein oder auch meine Frau und ich zusammen uns die
unterschiedlichsten Bücher angehört haben. In diesem Daisy-Format gibt
es auch eine Ausgabe des Wochenmagazins Der Spiegel. In diesem
Hörspiegel werden alle Artikel vorgelesen. Und ich bin am Freitagabend
immer sehr gespannt, was mir die neue Ausgabe bringen wird. Vor einigen
Jahren gab der etwas klobige Daisy-CD-Player seinen Geist auf. Doch da
hatte ich zum Glück bereits gelernt, wie ich die Daisy-Hörbücher auch
auf meinem iPhone hören kann. Davon später mehr.
Da ich mich
eher für Sachbücher als für Belletristik interessiere, sei es
thematisch aus dem Bereich meiner Berufstätigkeit, aber auch zu vielen
anderen gesellschaftlichen, historischen oder spirituellen Themen,
kommt es häufig vor, dass trotz des riesigen Angebots der mich
interessierende Titel weder im Daisy-Format noch im herkömmlichen
Hörbuchformat verfügbar ist.
Ist ein Buch nur in gedrucktem
Format verfügbar, dann gibt es im Prinzip drei Schritte, die zum
Anhören des Buches führen. Erstens muss das Buch eingescannt werden.
Das Ergebnis ist eine Bilddatei. Zweitens muss diese Bilddatei in
erkennbaren Text umgewandelt werden. Das geschieht mit der sogenannten
optischen Zeichenerkennung (englisch: Optical Character Recognition,
OCR). Hierfür benutze ich all die Jahre bis heute das Programm OmniPage
auf dem PC. Zum Glück habe ich hier Hilfe für die Bedienung. Wenn der
Text des Buches so erkannt ist, kann das Buch z.B. als PDF-Datei
abgespeichert werden. Viele Jahre lang habe ich einen dritten Schritt
benötigt, nämlich die Umwandlung des Textes in ein hörbares
Audioformat, nach Möglichkeit mp3. Dazu hat mir das Programm TextAloud
gute Dienste geleistet. Diese mp3-Dateien hatte ich dann mit einem
blindentauglichen mp3-Player abgespielt. Mein bevorzugtes Gerät hieß
Milestone. Dieses Verfahren ist nicht ganz perfekt. Beim Einscannen
entstehen immer wieder einmal Fehler und beim Hören braucht man
manchmal etwas Fantasie, um den Zusammenhang zu verstehen. Große
Probleme gab es auch immer, wenn das vorliegende Material in Spalten
formatiert war. Gleichwohl war ich sehr glücklich, dass ich
mir
auf diesem Wege viele Bücher anhören konnte, die nicht als Hörbuch
verfügbar waren.
In der Zwischenzeit hat sich die Technik
weiterentwickelt. Für mich ist es insbesondere die App Voice Dream
Reader, die zu meinem bevorzugten Medium für das Anhören von Texten und
Büchern geworden ist. Voice Dream Reader ist eine App für das iPhone.
Das iPhone als Blinder zu bedienen, habe ich vor ca. acht Jahren
gelernt. Es ist für mich ein unverzichtbares Instrument geworden, das
mir Zugang zur Welt der Informationen und der Kommunikation ermöglicht.
Die
Voice Dream Reader App kann Texte in unterschiedlichen Formaten
vorlesen. Dazu gehören reine Textdateien, Word-Dateien, Texte im
PDF-Format, aber auch Daisy-Bücher oder digitale Buchformate wie epub.
Schließlich spielt der Voice Dream Reader auch mp3-Dateien und damit
auch herkömmliche Hörbücher ab. Mp3-Dateien, z.B. eines Hörbuches,
können in zip-Dateien zusammengefasst werden. Das erhöht die
Übersichtlichkeit in vielen Fällen beträchtlich. Für das Vorlesen von
Texten wird eine große Anzahl von Stimmen angeboten. Das sind zwar
Kunststimmen, doch hat sich die Qualität dieser Stimmen im Laufe der
Jahre erheblich verbessert, sodass sie häufig auch angenehm anzuhören
sind. Die App merkt selbst, ob ein Text in Deutsch oder in Englisch
vorliegt und verwendet dann die bevorzugte Stimme für die jeweilige
Sprache, um vorzulesen.
Die Voice Dream Reader App bietet viele
Möglichkeiten, das Abspielen zu beeinflussen: durch Verändern der
Lautstärke, durch Vor- und Rückwärtsspulen, durch Beschleunigen oder
Verlangsamen der Wiedergabe oder durch das Einfügen eines Lesezeichens,
zu dem man zurückspringen kann. Wenn das vorhandene Format das hergibt,
dann lassen sich auch einzelne Kapitel, Unterkapitel und Absätze
anspringen. Immer mehr Bücher werden heute in einem digitalen Format
angeboten. Das hat große Vorteile gegenüber der weiter oben
beschriebenen Prozedur des Einscannens und Umwandelns in ein digitales
Format. Erstens ist die Wiedergabe meistens korrekt und ich kann auch
wortweise, satzweise oder absatzweise vorwärts und rückwärts gehen. Das
ist für mich ein Vorteil gegenüber den Daisy-Büchern, da ich immer
wieder gerne einmal einen Absatz herauskopiere. Das ist in einem reinen
Hörformat wie einem Daisy-Buch leider nicht möglich. So ist diese App
für mich das bevorzugte Instrument zum Hören und Abspielen von
Lesestoff in den unterschiedlichsten Formaten geworden. Außerdem habe
ich das, was ich mir anhören möchte, immer in meinem Handy verfügbar,
unabhängig davon, wo ich mich gerade aufhalte.
Bücher im
digitalen Format haben die Situation für sehbehinderte und blinde
Menschen grundlegend verändert. Immer mehr Bücher sind heute nicht nur
gedruckt, sondern auch in einem digitalen Format verfügbar. Sie bieten
einen ganz neuen Zugang dazu, Bücher hören zu können. Die drei
bekanntesten Formate sind pdf, das epub und Kindle. Epub ist sehr weit
verbreitet im Buchhandel und ist ein sehr praktisches Format, da man
sich das Inhaltsverzeichnis anzeigen lassen, den Text durchsuchen und
auf einzelne Kapitel springen kann. Das epub-Format gibt es ohne
Kopierschutz, aber teilweise auch mit Kopierschutz, also mit dem
sogenannten Digital Rights Management, abgekürzt DRM. Ohne Kopierschutz
können epub-Dateien direkt in Voice Dream Reader geladen werden und
sind dann sehr bequem anhörbar. Kopiergeschützte epub-Dateien sind
bisher nicht direkt in Voice Dream Reader ladbar. Man benötigt hier
zusätzliche Tools, um sie verfügbar zu machen. Amazon hat mit Kindle
ein eigenes digitales Format eingeführt, das durchgängig
kopiergeschützt ist. Die Anzahl Bücher in diesem Format ist sehr groß.
Kindle-Bücher sind jedoch häufig nicht so gut strukturiert wie
epub-Bücher. Auch hier benötigt man zusätzliche Schritte, um es in
Voice Dream Reader laden zu können.
Vielleicht noch ein Wort
dazu, wie der Hörstoff in mein iPhone kommt. Ich kopiere die
gewünschten Buchdateien auf meinem PC in meinen Speicher in der
sogenannten iCloud. Das ist ein Online-Speicher, der von Apple
angeboten wird. Im iPhone kann ich dann mit Voice Dream Reader auf
diesen Speicher zugreifen und mir den gewünschten Hörstoff in die App
laden. Erwähnen möchte ich auch noch, dass ich mir öfter Hörbücher im
Audible-Format von Amazon anhöre. Dafür gibt es eine eigene App, die
ebenfalls Audible heißt. Diese App ist nicht ganz so komfortabel wie
die von mir bevorzugte Voice Dream Reader App, jedoch ganz passabel.
Das Angebot an Audible-Büchern ist jedoch erneut besonders groß. Auch
hier gibt es sowohl englische als auch deutsche Hörbücher.
Es
ist ein Nachteil der Blindenbibliotheken, dass sie fast ausschließlich
deutschsprachige Daisy-Bücher anbieten. Ich habe versucht, Zugang zu
den großen Blindenbibliotheken in englischsprachigen Ländern zu
bekommen. Das ist mir leider nicht gelungen, da ich in Deutschland
wohnhaft bin.
Ich hoffe, dass mein Bericht über die vielfältigen
Möglichkeiten, Lesestoff zu hören, nicht zu verwirrend ist. Und wenn
Sie schon das eine oder andere Format kennen, haben Sie jetzt
vielleicht noch von anderen Möglichkeiten gehört.
Ich kann den
Umstieg vom Lesen auf das Hören auch Menschen mit nicht so starker
Seheinschränkung empfehlen. Denn beim Hören werden die Augen geschont
und entlastet. Und das ist bei Seheinschränkungen aller Art besonders
hilfreich.
Insgesamt bin ich sehr dankbar über die neuen
Möglichkeiten, die sich mir als Blinder durch die technische
Entwicklung bieten. Gleichzeitig bin ich mir natürlich auch der
problematischen Aspekte der neuen Technologien bewusst. Dazu zählt
sicherlich auch das Sucht- und Verwirrungspotenzial, wenn so viele
Informationen zur Verfügung stehen. Ein bewusster Umgang mit diesen
Möglichkeiten ist sicherlich sehr ratsam.
Ich lebe in Maintal, bin Lebens- und Konfliktberater und unterrichte
auch die Alexander-Technik. Meine Webseite lautet: www.nachinnen-nachaussen.de.
Und per Email bin ich erreichbar über meinrad.rohner@nachinnen-nachaussen.de.
Anleitungen zur Bedienung eines iPhones und auch Apps eines iPhones
kann man zum Beispiel bekommen bei tibsev.de.