"Entschuldigung, Sie stehen auf meinem Leitsystem"

Aktion des Blinden- und Sehbehindertenbundes will für Barrieren sensibilisieren

Von Nicole Schmidt

auf dem Freiheitsplatz, Frau Augen verbunden mit Stock

Hanau. Plötzlich ist es dunkel. Innerhalb von Sekunden bin ich bei der Wahrnehmung meiner Umgebung vor allem auf mein Gehör angewiesen. Der Grund ist die Verdunklungsbrille, die ich mir aufsetze, der Anlass eine Aktion der Hanauer Bezirksgruppe des Blinden- und Sehbehindertenbundes in Hessen e.V. (BSBH), die anlässlich des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen am 5. Mai stattfindet. Unter dem Motto „Zukunft barrierefrei gestalten“ hatte die „Aktion Mensch“ in den Wochen rund um den Termin zusammen mit Verbänden und Organisationen der Behindertenhilfe dazu aufgerufen. So wie ich, die Autorin dieses Textes, nutzen auch in Hanau dabei viele Passanten die Gelegenheit, ihre Umgebung einmal aus der Perspektive eines blinden oder sehbehinderten Menschen wahrzunehmen.

„Haltet uns den Weg frei!“ ist das Motto der Veranstaltung der Hanauer BSBH-Bezirksgruppe auf dem Freiheitsplatz, die auf die vielen Barrieren im öffentlichen Raum aufmerksam machen will, die von sehenden Menschen zumeist gar nicht wahrgenommen werden, für solche mit einem partiellen oder vollständigen Sehverlust aber den Alltag erheblich erschweren. Silvia Schäfer, Leiterin der Bezirksgruppe, kann ein Lied davon singen, wie oft zum Beispiel Koffer, Fahrräder oder auch Passanten auf den taktilen Bodenleitsystemen stehen, wie sie zum Beispiel an Bussteigen zu finden sind. Für blinde und sehbehinderte Menschen stellen jene eine wichtige Orientierungshilfe dar, denn sie zeigen mit unterschiedlich strukturierten Bodenplatten beispielsweise an, wo sich der Einstieg befindet – sofern sie nicht verstellt sind jedenfalls. „Entschuldigung, Sie stehen auf meinem Leitsystem“, ist jedenfalls ein Satz, den Silvia Schäfer, die mit einer verbliebenen Sehkraft von etwa einem Prozent selbst nahezu vollständig blind und auf solche Orientierungssysteme angewiesen ist, recht häufig gebraucht. Dabei steckt zumeist keine böse Absicht dahinter, wenn ein solches Leitsystem als Abstellfläche zweckentfremdet wird. Denn den meisten sehenden Menschen, weiß auch Schäfer, ist gar nicht klar, wie wichtig jenes für die selbstständige Mobilität ist, wenn man sich bei der Orientierung allein auf Gehör und taktiles Empfinden verlassen muss. „Manche wissen gar nicht, wozu das überhaupt gut ist und denken, es ist einfach nur ein schönes Muster im Boden.“

Dass die Rillen und Punkte nicht bloß Deko sind, darum geht es heute auch. Und darum, mit mehr Wissen auch mehr Verständnis zu schaffen für die Belange von Menschen mit Sehbehinderungen. Um ihren sehenden Mitmenschen die Möglichkeit zu geben, sich besser in die Welt eines Blinden hineinzudenken, haben Silvia Schäfer und ihre Mitstreiter an ihrem Infostand deshalb neben jeder Menge Infomaterial auch Verdunklungsbrillen und Blindenstöcke dabei. Unterstützt von Mitarbeitern von „T_OHR“ – Zentrum für Sehbehinderten- und Blindenreportage, einem gemeinnützigen Projekt unter dem Dach der Awo, können Interessierte den Freiheitsplatz einmal „blind“ erkunden.

Auch ich wage mit Verdunklungsbrille und Langstock dieses Experiment – und fühle mich schon nach wenigen Minuten heillos überfordert. Zwar bin ich nicht auf mich allein gestellt und Florian Schneider von T_Ohr bittet mich, einfach nur seiner Stimme zu folgen, doch so einfach wie sich das anhört, ist es gar nicht. Sehr holprig geht es los, denn die Spitze meines Langstocks bleibt permanent in den Vertiefungen zwischen den Bodenplatten hängen. Ich bin ein bisschen beruhigt, als ich höre, dass mutmaßlich kein tatsächlich blinder Mensch einen solchen Stock verwenden würde, der nur zu Demonstrationszwecken dient, während es wesentlich bessere Modelle gibt. Trotzdem – auf Kopfsteinpflaster ist es sicher auch damit kein Vergnügen.

Es fällt mir schwer, mich nur auf eine Stimme zu verlassen, erst recht, als diese verstummt und dann plötzlich einige Meter weiter wieder hörbar wird. „Es stimmt übrigens gar nicht, dass blinde Menschen besser hören – sie nehmen Geräusche nur viel bewusster wahr“, klärt mich Florian Schneider auf. Das wiederum, so merke ich sehr schnell, ist unvermeidlich, wenn man nichts sieht. Und anstrengend. Verkehrsgeräusche und Gesprächsfetzen prasseln auf mich ein, ohne dass ich genau weiß, wie weit sie weg sind, und eine plötzlich laut kreischende Kinderstimme in unmittelbarer Nähe lässt mich zusammenzucken. Florian Schneider tippt mich leicht an und ich ahne, wie unangenehm es sein muss, wenn ein hilfsbereiter Passant einen Blinden ohne Vorwarnung einfach anpackt. Das Gegenteil von gut ist eben manchmal gut gemeint. „Lieber erst mal ansprechen“, empfiehlt mein Guide. Er erzählt mir auch, dass blinde und sehbehinderte Menschen in speziellen Schulungen auf selbstständige Mobilität vorbereitet werden.

Ich selbst komme derweil nur sehr langsam voran, habe permanent Angst, gleich gegen irgendwas zu laufen. Irgendwo sind hier Bänke, das weiß ich. Doch als ich die Brille abnehme, wird mir klar, dass ich absolut die Orientierung verloren habe: ich bin nicht mal im Ansatz da, wo ich vom Gefühl her erwartet hatte.

Die weitaus größeren Herausforderungen – Bordsteine, Baustellen und Blumenkübel – lerne ich an diesem Tag nicht kennen, verstehe aber umso mehr, was Silvia Schäfer mir im Nachgespräch erklärt: Wie wichtig die Beteiligung (seh-)behinderter Menschen auch an Stadtplanungsprozessen ist, um ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.

Die organisatoren der Veranstalung (silvia, Achim, Margit) , dazu drei Teilnehmer aus Frankfurt

Mit freundlichen Grüßen

Druck- und Pressehaus
Naumann GmbH & Co. KG

i.A. Nicole Schmidt
Redaktion Mittelhessen-Bote

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