Am 14.September 2018 stand folgender Artikel über Elektromonbilität in der FAZ

„Ein Testlabor ist eben nicht die Realität“
Blinde sind im Straßenverkehr auf deutliche Geräusche angewiesen, um sich orientieren zu können. Die leisen E-Autos sind für sie eine Gefahr. Was Autobauer an Lösungen bieten, überzeugt sie nicht. Von Jan Klauth

Silvia Schäfer überquert mit demBlindenstock einen Zebrastreifen, dahinter ein Auto
© Rainer Wohlfahrt
Routiniert: Silvia Schäfer findet sich im Straßenverkehr gut zurecht – solange sie Fahrzeuge hören kann.

HANAU. Routiniert tritt Silvia Schäfer auf den Zebrastreifen an der Steinheimer Straße in Hanau, den Blindenstock benötigt sie kaum. Von rechts lärmt die Straße am Steinheimer Tor, einem Teilstück der Bundesstraße 45, links rattert ein Presslufthammer auf einer Baustelle, über ihr ist ein Flugzeug im Landeanflug zu hören. „Der Lärm ist kein Problem für mich“, sagt Schäfer, als sie auf der gegenüberliegenden Seite ankommt. Das Problem ist die Stille.
Silvia Schäfer ist blind - jedoch nicht von Geburt an. Dass ihr Augenlicht schlechter wurde, merkte sie zum ersten Mal in der Grundschule. „In der dritten Klasse konnte ich selbst in der ersten Reihe die Schrift an der Tafel nicht mehr erkennen“, erinnert sie sich. Irgendwann sah Schäfer nur noch schwarze und weiße Schatten, die längste Zeit ihres Lebens ist die Einundfünfzigjährige blind.
Seit acht Jahren wohnt die gebürtige Pfälzerin in Hanau, ihr Arbeitsplatz ist der Blinden- und Sehbehindertenverband im Westen der Stadt. Auf ihrem täglichen Weg ins Büro nutzt sie den Bus und quert mehrere Straßen, ihr einziger Begleiter ist der Stock. „In der Stadt sind die Leute Blinden gegenüber sehr hilfsbereit, brenzlige Situationen erlebe ich kaum.“
Seit einigen Jahren jedoch gibt es für Schäfer ein neues Problem im Straßenverkehr: Elektroautos. Sie hält die Stromer eigentlich zwar für eine gute Sache - wäre da nicht das Problem mit der Lautlosigkeit. „Blinde haben keine Chance, Elektroautos im Verkehr zu hören“, klagt sie. Auch für ältere Menschen, Kinder und Radfahrer könnten die Fahrzeuge zur womöglich sogar tödlichen Gefahr werden.
Dieser Meinung ist nicht nur Schäfer. Schon 2006 erkannten der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband und die Europäische Blinden-Union die potentielle Gefahr und forderten unter anderem die Ausrüstung aller Elektroautos mit einem „Acoustic Vehicle Alerting System“ (Avas), das Motorengeräusche abgibt. Wolfgang Angermann, Präsident der Blinden-Union, erinnert sich: „Über Jahre haben wir mit der Autoindustrie, mehreren EU-Abgeordneten und Regierungsstellen debattiert. Es waren harte Verhandlungen, besonders die Autolobby hat sich gegen unsere Forderungen gewehrt.“ Doch die Hartnäckigkeit habe sich endlich ausgezahlt, sagt Angermann. Denn vor kurzem erzielte die Blinden-Union zumindest einen Teilerfolg: Der Einbau eines Avas wird von Juli 2019 an für alle neu entwickelten Fahrzeugtypen in der EU zur Pflicht, von Juli 2020 an für alle neu zugelassenen Elektro- und Hybridautos.
Dem Blinden- und Sehbehindertenverband geht das allerdings nicht weit genug. „Elektroautos und vor allem Busse müssen ab sofort mit dem Avas ausgestattet werden“, fordert Silvia Schäfer. Außerdem sei eine Nachrüstungspflicht nötig, die Kosten dafür müsse der Autobauer und nicht der Kunde tragen.
Knapp 53 000 Elektroautos waren im vergangenen Jahr auf deutschen Straßen unterwegs, rund 850 000 in der gesamten EU. „So gut wie keines dieser Fahrzeuge ist mit einem Avas ausgestattet“, sagt Angermann. „Natürlich verstehe ich auch die Seite der Autobauer“, sagt er weiter. Die Geräuschlosigkeit sei außer der Umweltfreundlichkeit eben ein Verkaufsargument der Industrie.
Trotzdem sieht Angermann die Autobauer in der Pflicht. Denn im Zweifelsfall entscheide ein Avas über Leben und Tod.
BMW baut das seit 2013 auf Kundenwunsch in seine Fahrzeuge ein - gegen Aufpreis, wie ein Unternehmenssprecher bestätigt. Mit etwa 100 Euro für das Gerät müssten Kunden rechnen. Schon 2012 habe BMW zusammen mit dem bayrischen Blindenverband Studien erstellt, deren Ergebnisse den „Soundcharakter“ des heutigen Avas prägten.
Der Konkurrent Audi scheint das EU-Gesetz eher als Last zu sehen. „Selbstverständlich halten wir uns an die jeweiligen Gesetzesvorgaben“, sagt ein Sprecher des Unternehmens. Mehr Informationen gebe es nicht, zur Kostenfrage könne man keine Stellung beziehen. Auch bleibt offen, ob Elektroautos nachgerüstet werden können und wer die Kosten dafür trägt.
Volkswagen hingegen geht der Kommunikation nicht aus dem Weg. Mehrmals habe man sich mit Blindenverbänden getroffen und die geplanten „E-Sounds“ an Elektroautos im Straßenverkehr vorgestellt. „Das Feedback war sehr positiv“, sagt ein Konzernsprecher. Die Geräusche seien einem Verbrennungsmotor nachempfunden und änderten sich entsprechend beim Beschleunigen und Bremsen. „So ist auch für Blinde und Sehbehinderte eine bessere Einschätzung möglich.“ Etwa von Tempo 30 an seien jedoch Reifen die größte Lärmquelle eines Autos und nicht mehr der Motor. Von dieser Geschwindigkeit an werde der E-Sound reduziert, bis er sich bei Tempo 50 ganz abschalte. Bevor im nächsten Jahr die EU-Regelung für neu entwickelte Fahrzeugtypen greift, bleibt die Ausstattung mit dem Avas für VW-Kunden optional und nicht kostenlos: Sie müssen 155 Euro zahlen.
Vor wenigen Wochen hielt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband seinen Verbandstag in Berlin ab. Mehrere Autobauer präsentierten dort stolz ihre Elektroautos mit eingebautem Avas. Für Silvia Schäfer und Wolfgang Angermann fiel der Praxistest allerdings ernüchternd aus: Im Straßenverkehr seien die Autos kaum zu hören. Angermanns Fazit: „Ein Testlabor ist eben kein Abbild der Realität.“

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