Anlässlich der Aufstellung eines betastbaren Modells der Hanauer Altstadt am 21.Mai 2019 erschien am 23. Mai folgender Artikel von Ulrike Pongratz im Hanauer Anzeiger:
Hanauer Altstadt
und Neustadt zum Anfassen
Eine Stadt zum Ertasten: Anfang der Woche wurde an der Ecke Freiheitsplatz/Marktstraße
ein besonderes Stadtmodell enthüllt. Ein Bronzeguss mit der Darstellung
der Hanauer Altstadt und Neustadt aus dem 18. Jahrhundert soll insbesondere
blinden und sehbehinderten Menschen die Orientierung erleichtern.
Die Bildhauer Egbert und Felix Broerken aus Welver in Westfalen haben nach Vorlage
des sogenannten Metzger-Plans aus dem 17. Jahrhundert, einer Darstellung der
Hanauer Alt- und Neustadt von Christoph Metzger, ein bronzenes Stadtmodell aus
einem Stück gegossen. Felix Broerken, dessen Vater das erste Blinden-Stadtmodell
für Münster entwickelt hat, sagte anlässlich der kleinen Feierstunde
zur Einweihung des Kunstwerks: „Jedes Modell ist für uns eine Herausforderung.
Mein Vater hat vor mehr als 20 Jahren an einer Stadtführung für blinde
und sehbehinderte Menschen teilgenommen und war der Meinung, das könne
man besser machen.“
Egbert Broerken entwickelte gemeinsame mit der Westfälischen Blindenschule in Soest die beste Tastbarkeit der Modelle. Für die Erläuterungen in Braille wurde ein spezielles Gussverfahren entwickelt. Etwa 160 Bronzemodelle haben Vater und Sohn bislang gefertigt, so zum Beispiel für Berlin, Hamburg oder München. „Die Stadtmodelle entstehen im Wachsausschmelz-Verfahren, einer traditionellen Handwerkskunst. Bronze lebt weiter“, sagte der Bildhauer, „streicheln Sie also jeden Morgen den Kirchturm.“
Dieser
Aufforderung des Künstlers folgten die anwesenden Gäste nur zu gerne.
Kaum hatten Oberbürgermeister Claus Kaminsky, Barbara Nagel (Wolfgang Arnim
Nagel-Stiftung) und die Frauen des Lions Damenclub Hanau Schloss Philippsruhe,
das Altstadtmodell in der Marktstraße enthüllt, wurde es ertastet,
erfühlt und getestet. Vor allem die Mitglieder des Blinden- und Sehbehindertenbundes
in Hessen e.V. waren sehr neugierig auf das Modell. Silvia Schäfer, die
Vorsitzende des Blindenbundes Hanau, erklärte: „Ich kenne die Stadt
so, wie ich sie mir erarbeitet habe. Ich habe ein Bild im Kopf über den
Straßenverlauf und bin sehr gespannt, ob ich den Straßenverlauf
wiederfinde.“
Silvia Schäfer lebt seit neun Jahren in der Hanauer Vorstadt. Sie geht
zu Fuß zu ihrem Arbeitsplatz am Steinheimer Tor und kann sich in der Hanauer
Neustadt sehr gut orientieren. Mit Unterstützung von Freunden hat sie die
Reihenfolge der parallel verlaufenden und der Querstraßen auswendig gelernt.
Beim Gehen zählt sie normalerweise die Kreuzungen. „Manchmal bin
auch ich in Gedanken versunken“, lacht sie, „dann muss ich stehenbleiben
und einen Auenblick überlegen.“ Inzwischen gibt es aber auch Apps,
die blinde Menschen navigieren und bei der Orientierung helfen. „Hier
in Hanau sind auch die Menschen sehr, sehr hilfsbereit. Sobald ich stehen bleibe,
werde ich sofort angesprochen, ob ich Unterstützung brauche.“
Jetzt braucht Silvia Schäfer nur eine kleine Hilfe am Altstadtmodell. „Ich
brauche einen Orientierungspunkt, vom aus ich weiterfühlen kann.“
Silvia Schäfer, die sich in Altstadt nicht so gut auskennt, positioniert
sich vor der Neustadt. „Was ist das für eine Kirche?“ fragt
sie. Über die intakte Wallonisch-Niederländische Kirche ist die blinde
Frau zunächst irritiert, sie hat das Gebäude als Ruine abgespeichert.
Aber dann kommt sie gut zurecht. Marktplatz und Rathaus sind schnell erkannt,
über die Enge der Straßenräume ist sie erstaunt. „Ist
das schon die Fahrstraße? Ist sie so nahe am Rathaus?“ Auch Befestigungsanlagen,
Wall und Wassergraben sorgen ein wenig für Verwirrung. „Ich brauche
sicher eine Stunde, bis ich das Modell ertastet und mit meinem inneren Bild
abgeglichen habe“, erklärt Silvia Schäfer.
Nicht nur blinde und sehbehinderte Menschen tasten und fühlen, diskutieren
und vergleichen, sondern alle wollen das Relief haptisch erfahren.
Der Standort des Modells an der historischen Nahtstelle zwischen Alt- und Neustadt
sei mit Bedacht ausgewählt, so Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Der
kleine Platz an der Marktstraße – Ecke Freiheitsplatz sei auch als
Treffpunkt für Stadtführungen geeignet. Das Modell ergänze die
Kunstwerke im öffentlichen Raum, die Hanau auch einzigartig und unverwechselbar
machen würden. Es stehe direkt neben dem neu erbauten Forum genau richtig
und mache für Schulklassen, für Gäste und natürlich für
alle Hanauer die Geschichte, die uns nicht gleichgültig ist, deutlich.
30.000 Euro kostete das Kunstwerk, das Stadt Hanau, der Lionsclub Hanau Schloß
Philippsruhe und die Wolfgang Arnim Nagelstiftung zu gleichen Teilen finanziert
haben.
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